Review: Ein bunter Traum mit grauen Fäden

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CocoRosie präsentierten am 19. Juni in Prag ihr fünftes Album ‚Tales Of A Grass Widow‘

Es ist Mittwochnachmittag, der 19. Juni. Bei hochsommerlichen Temperaturen setzt sich ein voll besetzter – und angenehm klimatisierter – Reisebus vor dem Festspielhaus in Hellerau in Bewegung. Das Ziel des Ausfugs: Das Archa Theater in Prag. Der Grund: Das einzige Konzert von CocoRosie – der bizarren und zugleich anziehenden Band des amerikanischen Schwesternduos Sierra und Bianca Casady – in Tschechien.

Schon der letzte Besuch von CocoRosie im Juli des vergangenen Jahres gilt nach wie vor als „one of the hottest concerts of last summer“, wie das Archa Theater immer noch betont. Die Erwartung sind dementsprechend hoch – nicht nur was die Stücke des neuen Albums selbst, sondern auch deren Umsetzung und Inszenierung betrift.

Doch zuvor wurde der sich zusehends füllende Saal von der New Yorkerin Nomi Ruiz und ihrem Projekt Borough Gypsy auf alles Kommende eingeschworen. Ruiz singt, rappt und räkelt sich lasziv eine halbe Stunde lang zu ihren Stücken, deren R’n’B-lastige Instrumentale allesamt aus der Konserve kommen und zwischen Show und Visualisierung zu einem Film verwoben werden. Richtig schlüssig ist man sich jedoch nicht, ob Ruiz Hip Hop-Klischees überdeutlich bedienen will oder jene genau durch die übertriebene Darstellung karikiert wissen möchte.

Viel Zeit darüber nachzudenken hatte man jedoch nicht und schlussendlich ist ein leichtes Gefühl von Verunsicherung ja auch der beste Nährboden für ein Konzert von CocoRosie. Diese nahmen dann auch – nach mittellanger Umbaupause – die Bühne im Handumdrehen in Beschlag. Einerseits durch ihre Erscheinung selbst, anderseits durch die musikalische Entourage, die das fünfte Album „Tales Of A Grass Widow“ live umsetzt. Bemerkenswert vor allem der Umstand, dass kein Schlagzeuger oder Drum-Computer die Rhythmik vorgab, sondern Tez, ein begnadeter Beatboxer, das gesamte Konzert abwechslungsreich und virtuos grundierte (ein Umstand, den sein Solo-Part in der Hälfte der Show zusätzlich eindrucksvoll unter Beweis stellte).

Wie viele Lieder letztendlich in den sagenhaften zwei Stunden des Konzerts gespielt wurden ist nicht auszumachen, denn nach recht kurzer Zeit ist man einfach im Kosmos von CocoRosie ein- bzw. abgetaucht. Ein Raum, der zwar von dunklen, geradezu metaphysischen Grundtönen durchzogen ist, jedoch auch permanent farbig ausgeleuchtet wird. Man merkt deutlich, dass die Musik nicht schmerzfrei oder gar unbeschwert geschrieben ist (auch es wenn mitunter so klingt), aber es dennoch schaft, lindernde, ja regelrecht analgetische Kraft auszustrahlen. Das erklärt sich wohl auch durch das Thema des Albums, wonach Gewalt gegen Kinder und der Umgang mit ihr auf „Tales Of A Grass Widow“ eine zentrale Rolle spielen.

Musikalisch bewegen sich CocoRosie zeitweise sogar in Richtung Pop, bleiben jedoch immer auch surreal und irgendwie un(be)greifbar. Die Unterschiedlichkeit der Charaktere sowie die skurrile Kostümierung von Bianca und Sierra Casady steigern dabei jenen Eindruck zusätzlich. Vor allem aber nähren sie die Überzeugung, dass dieses Geschwisternpaar genau das sind, was sie da machen. Insofern ist es gut, dass beide für ihre inneren Welten einen kreativen Output gefunden haben. Alles andere möchte man sich nicht vorstellen. Und das braucht man ja glücklicherweise auch nicht.
Und während der Bus durch die Nacht zurück nach Dresden fuhr, hing das Erlebte noch wie ein Rausch nach. Wie ein bunter Traum mit grauen Fäden, an den man sich gern erinnert.

von Thomas N.

P.S: Thomas du kannst dir auch einen Autorenzugang wünschen!

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